„Habe nie etwas geschenkt bekommen“
Am Samstag sehen wir letztmals den unverwüstlichen Abwehrspieler Jürgen Kohler. Nach 90 Minuten vollzieht der 37-Jährige unwiderruflich den Wechsel auf die Trainerbank – und bleibt damit doch das, was er immer war: Ein Hoffnungsträger für den deutschen Fußball.
Feiert am Samstag Abschied einen bewegenden mit seinen Fans: "Fußballgott" Jürgen Kohler.
Wie sehr freuen Sie sich auf einen Tag, oder wie sehr fürchten Sie sich vor diesem, der unwiderruflich den Schlussstrich unter einen Lebensabschnitt setzt?
Jürgen Kohler: „Ich freue mich darauf! Weil ich quasi in meinem Wohnzimmer, vor einem phantastischen Publikum, mein Abschiedsspiel bestreiten darf.“
Als Flemming Povlsen vor einigen Jahren aufhören musste, fühlte er eine „große Leere“, sprach von Depressionen. Er hat den tiefen Schnitt nur sehr langsam verarbeiten können. Wie sieht Ihre Gefühlswelt 165 Tage nach dem Abpfiff Ihres letzten Profispiels aus?
Kohler: „Mehr als gut. Ich habe mich ja auch lang genug auf diesen Tag vorbereiten können, was bei Flemming leider nicht der Fall war. Er wurde von heute auf morgen aus seiner Karriere gerissen – bei mir war es ein Entschluss, den ich lange zuvor gefasst hatte. Zum anderen habe ich auch sofort eine neue Aufgabe gefunden, die ich mit viel Spaß, mit viel Freude ausfülle. Da trennt man sich leichter von dem, was man gerne getan hat.“
Werden Sie Vitor Manuel Melo Pereira, dem portugiesischen Schiedsrichter mit dem klangvollen Namen, jemals verzeihen können, dass er Ihr finales Match – und dann auch noch ein Endspiel um einen Europapokal – vorzeitig beendete? Schließlich war es ein umstrittener Feldverweis.
Kohler: „Das muss man so akzeptieren, ich hege keinen Groll. Die Situation war eine Auslegungssache. Für mich war das gar nicht so schlimm, schließlich durfte ich schon am nächsten Tag erfahren, was nur ganz wenigen Fußballern widerfährt: eine große Zuneigung von Seiten der Fans. Das ist der Grund, warum ein Fußballer Fußball spielt: um diese Zuneigung zu bekommen. Das war für mich mehr wert als noch ein weiterer Pott. Denn die Szenen am Tag danach in Dortmund haben gezeigt: Die Leute mögen nicht nur den erfolgreichen Fußballer Jürgen Kohler, sondern sie mögen auch den Menschen – das weitaus Wichtigere im Leben.“
66 Europapokal-Einsätze – und dann im letzten Spiel die „Rote Karte“. Ist das typisch für die untypische Karriere des Jürgen Kohler?
Kohler: „Ich bin sogar froh darüber, so etwas miterlebt zu haben. Ich durfte einen tollen Beruf ausüben. Solche untypischen Situationen habe ich im Verlauf meiner Karriere viele erlebt. Ich habe nie etwas geschenkt bekommen, war nie pflegeleicht, aber immer kerzengerade. Ich habe immer gesagt, was ich dachte.“
Wenn Sie sagen, nie etwas geschenkt bekommen zu haben, dann trifft dies auch auf die beiden Bundesligaspiele zu, die bis zur Marke von 400 fehlen. Sie sind bei 398 stehen geblieben.
Kohler: „Natürlich hätte ich die Grenze gerne erreicht. Das war mir nicht vergönnt, und ich akzeptiere es. Allerdings darf man die rund 120 Spiele aus der italienischen Serie A nicht vergessen, so dass ich weit über 500 Erstliga-Partien bestritten habe.“
Ihr letztes von 28 Bundesliga-Toren liegt schon weit zurück, es fiel am 29. April 2000. Aber typisch für Jürgen Kohler war es ein sehr, sehr wichtiges...
Kohler: „Fiel es gegen den HSV..?“
... nein, in Stuttgart...
Kohler: „Jetzt fällt es mir ein. Es war das 1:0 – und vielleicht das wichtigste Tor, das ich für Borussia geschossen habe. Es ebnete den Weg zum Klassenerhalt. Denn wenn wir dieses Spiel auch noch verloren hätten, wären wir vermutlich abgestiegen. Stattdessen traf Heiko Herrlich kurz vor Schluss zum 2:1 – und aufgrund der anderen Ergebnisse waren wir damit praktisch gerettet.“
Wie haben Sie sich auf Ihr Abschiedsspiel heute Abend vorbereitet?
Kohler: „Eigentlich wollte ich regelmäßig laufen gehen, doch dazu fehlte mir meistens die Zeit. Heute Abend spiele ich hinter den Spitzen, da sollen die anderen mal für mich laufen...“
Seit einigen Wochen trainieren Sie die U21-Nationalmannschaft. Wenn man Sie bei einem Spiel an der Seitenlinie erlebt, können Sie eine Seelenverwandtschaft mit Matthias Sammer nicht leugnen. Sie gestikulieren, Sie winken, Sie geben Anweisungen – Sie sind ständig auf Achse...
Kohler: „Jeder Trainer versucht, seinen eigenen Weg zu gehen. Als Fußballer kannst du dir deinen Frust rauslaufen, als Trainer kannst du ihn nur rausbrüllen. Ich bin einer, der mitlebt, der Emotionen zeigen kann.“
Was geben Sie Ihren jungen Spielern, die Kandidaten für die WM 2006 sein können, aus Ihrem riesigen Erfahrungsschatz mit auf den Weg?
Kohler: „Für mich ist es entscheidend, dass jeder Einzelne einen Qualitätssprung macht und darüber hinaus auch als Mensch reift. Diese Spieler, die in der Regionalliga, in der zweiten Liga, teilweise auch in der Bundesliga aktiv sind, kann man zu einem gewissen Grad formen, letztendlich aber liegt es an ihnen selbst, was aus ihnen wird.“
Wie unterscheidet sich der Tagesablauf eines Fußball-Profis von dem eines Fußball-Trainers?
Kohler: „Als Profi bist du Befehlsempfänger, als Trainer -Geber. Der Job des Trainers ist stressiger, unruhiger, man ist noch mehr unterwegs, zeitlich sehr eingespannt. Das fängt mit Aufgaben im organisatorischen Bereich an; was nicht einfach ist, weil wir uns nicht jeden Tag treffen. Im Verein läuft vieles nach dem selben Schema, das ist bei der Junioren-Nationalmannschaft nicht der Fall.“
Es ist nachzulesen, dass Sie Lokführer geworden wären wenn nicht Fußballprofi...
Kohler: „Das stimmt. Mein Elternhaus in Lambsheim lag unmittelbar an den Bahnschienen, und ich war immer fasziniert, wenn die Züge dort vorbei gefahren sind. Früher die Dampfloks, später Dieselmaschinen, schließlich die modernen E-Loks.“
Sie bleiben Borussia Dortmund in der Funktion eines Wirtschafts- und Beiratmitglieds erhalten. Haben Sie schon erste Erfahrungen in diesem Gremium sammeln können?
Kohler: „Leider nein, denn an den beiden ersten Sitzungen konnte ich aufgrund anderweitiger Termine nicht teilnehmen.“
Das Gespräch führte Boris Rupert