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Starlight
18-05-2004, 01:03
Washington hat die Wall Street fest im Griff

Es sieht ein wenig aus, als wären die Käufer einfach noch im Wochenende. Doch ist die Wahrheit viel trüber: Die Käufer sind massiv verschreckt, und sie werden wohl in nächster Zeit nicht an die US-Märkte zurückfinden, die immer weniger von Corporate America und mehr von Washington und den internationalen Krisen beeinflusst werden.

Am Montagmorgen gibt es nicht viele Meldungen aus dem Unternehmens- und aus dem konjunkturellen Umfeld der Börse. Und die wenigen, die es gibt, sind nicht so schlecht ausgefallen, dass der Dow schon in den ersten Handelsminuten um 125 Punkte hätte absacken müssen. Im Gegenteil: Der Empire-State-Index über das Produzierende Gewerbe notiert zwar schwächer als erwartet, aber noch immer über 30 und damit eigentlich gut. Zudem ist der Index nicht gerade der meist beachtete auf dem Parkett.

Zahlen aus Corporate America reißen zum Wochenstart keinen vom Hocker: Mit Limited Brands, Kmart und Lowe’s melden lediglich ein paar Unternehmen, die man auf dem Parkett als zweitklassige News abtut. Man nimmt sie wahr, aber den Handel beeinflussen sie nicht wirklich.

Vielmehr schaut man weiter mit Entsetzen auf die Entwicklung des Ölpreises. Der klettert weiter in unerforschtes Territorium, steigt auf die 42 Dollar zu. Während sich die Opec nicht zu rühren scheint, denkt man in Washington daran, eventuell auf die strategischen Reserven zurückzugreifen, um die Preise einigermaßen überschaubar zu halten.

Womit wir beim Thema wären: An der Börse geht es zum Wochenstart erneut um Wahsington, um den Irak, um Politik, nicht zuletzt um Präsident George W. Bush und dessen zurzeit wieder weniger wahrscheinlich erscheinende Wiederwahl. Das Attentat auf den irakischen Regierungsrat Salim und ein weiteres scheinbares Attentat mit Nervengas auf einen Konvoi der US-Armee lassen immer stärker durchblicken, dass die USA die Lage im Kriegsgebiet nicht im Griff haben.

Bushs demokratischer Gegner Kerry nutzt diesen Umstand allerdings nicht aus. Damit geht er zwar einerseits möglichen Vorwürfen aus dem Weg, nach denen er den Konflikt für den Wahlkampf instrumentalisiere. Andererseits verpasst er weiterhin die Gelegenheit, sich zu positionieren und den Wählern einen tieferen Eindruck der einzig wirklichen Alternative zu Bush zu vermitteln. Obwohl die Wall Street in Sachen November-Wahl weiter auf der Seite des Amtsinhabers steht, kann es niemand gutheißen, wenn der Konkurrent gesichtslos bleibt – zu groß ist die Unsicherheit.

Unterdessen leidet Bushs Ansehen immer mehr. Am Wochenende wurde erneut darüber spekuliert, dass Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Folterungen in irakischen Gefängnissen doch bewusst hingenommen haben soll. Gleichzeitig kommen die in den vergangenen Monaten etwas in den Hintergrund gedrängten Schiksale der Gefangenen in Guantanamo Bay wieder auf.

Zu allem Unglück präsentiert der Filmemacher Michael Moore am Montagabend in Cannes seinen mit Spannung erwarteten Film „Fahrenheit 9/11“, in dem er die Beziehungen der Familie Bush nach Saudi-Arabien offenlegen und den Öl-Filz durchkämmen will. Unklar ist, ob der Film wirklich neue Informationen offenbaren kann. Sicher ist hingegen, dass er von den Medien groß beachtet und für jede Menge Stimmung gegen den Präsidenten sorgen wird.

Auch an anderen Fronten verliert Bush den Rückhalt der Bevölkerung: Seit Mitternacht werden unter den Augen der Medien nun doch wieder Heiratslizenzen an homosexuelle Paare ausgegeben, sowohl in Massachussetts als auch in Oregon. Bush als selbst ernannte moralische Instanz ist auch in diesem Kampf unterlegen.

Die Börse bricht ein, weil der Präsident einen weiteren Tiefpunkt erreicht hat. Die Krisen in Washington und in der Außenpolitik haben die Wall Street fest im Griff, und da sich die Ertragssaison dem Ende zuneigt und in den nächsten Tagen auch keine aufregenden Konjunkturdaten anstehen, wird dies wohl eine Zeit lang so bleiben.

Lars Halter - © Wall Street Correspondents Inc.