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HansA
02.12.2001, 19:18
Die Angst, der zähe Nebel

Emmanuel Bove ist ein Experte des Scheiterns. Auch der Nachlassroman "Colette Salmand", spät unter dem Bett seiner Frau entdeckt, erzählt kühl vom Vergeblichen
Manche zieht das Unglück magisch an. Es wirkt verführerisch in seiner Ausweglosigkeit, es ist kein Wagnis und scheint weniger flüchtig als das Glück, dessen Verlust, kaum hat man ein wenig davon gekostet, dauernd zu befürchten steht. Das Unglück überzieht die gesamte Existenz mit einer klebrigen Schicht, es haftet einem an wie Pech. Der französische Schriftsteller Emmanuel Bove erzählt davon. Er ist mit dem Unglück groß geworden. Alle seine Romane sind Unglücksstudien, Pathologien des Scheiterns. Manchmal aber kommt der geheime Punkt, an dem es in etwas Anderes umschlagen könnte.

Wie ein Getriebener schreibt Bove seine Geschichten, 30 Bände insgesamt, die auf Bestellung fabrizierten Groschenhefte nicht mitgerechnet. Mit 47 Jahren kehrt er, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, krank und erschöpft aus dem algerischen Exil zurück. Der einst gefeierte Romancier stirbt im Juli 1945 und gerät sofort in Vergessenheit. Viel zu privat scheinen seine Bücher im politisierten Frankreich der Nachkriegszeit. Erst 1977 entdeckt man ihn neu, und man ist fasziniert von Boves nüchternem Tonfall, seinen düsteren Vergeblichkeitserzählungen.

"Colette Salmand", ein 150 Seiten langes Manuskript aus dem Nachlass mit dem Untertitel "Un caractère de femme", war zu Lebzeiten vom Verlag abgelehnt worden. Erst nach dem Tod der zweiten Ehefrau Louise findet es sich, es steckt in einem Lederkoffer unter ihrem Bett, zwischen ausgebesserten Seidenhemden mit Boves Initialen, verstreuten Tagebuchseiten, verknickten Fotos und zwei weiteren Manuskripten. Die Friedenauer Presse bringt "Colette Salmand" nun in einer gelungenen Übertragung von Barbara Heber-Schäfer als wunderschön ediertes "Winterbuch" heraus, ergänzt durch ein Nachwort und ein Gespräch mit Peter Handke, der schon früh einige Romane Boves übersetzt hat. Dem Buch haben die Jahrzehnte im Lederkoffer nicht geschadet. Bove beherrscht etwas, was keine Patina ansetzt: Er erzählt auf schlichte, unpathetische Art von den Grundbedingungen der menschlichen Existenz.

Vater, Tochter, Geliebte

Die Heldin Colette taucht eines Abends völlig unerwartet bei einer Einladung für ihren Vater auf. Man feiert die Verlobung des allseits geschätzten Arztes mit einer jungen Frau, die im selben Alter wie Colette, seine Tochter ist. Nassgeregnet und ärmlich gekleidet findet sich die ungebetene Besucherin im Vorzimmer Madame Benács ein, der Mutter der Verlobten und Gastgeberin, die der Bittstellerin am liebsten sofort die Tür gewiesen hätte. Von einer Tochter wusste Madame Benács nichts. Colette hatte Monsieur Salmand vier Jahre zuvor im Stich gelassen und war ihrem Freund Jacques in die Schweiz gefolgt. Seither war der Kontakt abgerissen.

Schon in der großartigen Anfangsszene des Romans wird der Leser mit Colettes Unbehagen gleichsam infiziert. Jeder Gegenstand hat seine Funktion, jede Handbewegung und jedes Stirnrunzeln lässt eine spezifische Stimmung entstehen. Ein unbeteiligtes Auge fängt alles ein: den behaglichen Salon, der, wie es heißt, einem vorbei schlendernden Fußgänger warm und anziehend vorkommen müsste, das weiße Geschirr auf dem sorgfältig gedeckten Tisch, die geschäftige Gastgeberin, das Geplänkel zwischen den Geladenen.

Dann betritt Monsieur Salmand den Raum. Gnadenlos registriert der auktoriale Erzähler körperliche Mängel, bemerkt Haltungsfehler, nervöses Händereiben und den mageren Nacken des jovialen Mitfünfzigers. Wie in einem Kammerspiel bahnen sich Spannungen unter den Beteiligten an, und ausgerechnet hier bricht plötzlich alles ab - eine Seite des Manuskripts, das 65 Jahre lang vergessen war, ging verloren. Eine harte Prüfung für den Leser, aber der Roman hat einen schon gepackt, man füllt die Lücke und eilt weiter.

Eine Kältespirale der Gefühle

Die Perspektive wechselt, jetzt liefert Madame Benác, die Gastgeberin, die Vorgaben der Wahrnehmung. Colette steht an der Tür und wird kritisch gemustert. Wieder ein Schwenk, und wir sehen die Wohnung mit Colettes Augen. Sie ist am Ende ihrer Kräfte und will zu ihrem Vater. Als der Arzt auf sie zutritt, steigt von seiner Hand spiralförmig Zigarettenrauch auf. Kein Wort verliert Bove über die Kälte und Distanz des Vaters - dass er nicht einmal die Zigarette ausdrückt, um seine Tochter nach vier Jahren in Empfang zu nehmen, beschreibt seinen Charakter hinreichend.

In diesen Übersetzungen diffuser Gefühle zeigt sich Boves Meisterschaft. Bereits die ersten Sätze des Romans, der sehnsüchtige Blick namenloser Passanten auf die hell erleuchteten Fenster der fremden Wohnung, lassen Colettes seelische Lage ahnen. Ihr Zustand ist ein typisch Bovescher: ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, heimatlos, dem Unglück verhaftet, ohne jede Möglichkeit, etwas daran zu ändern.

Sparsam instrumentiert Bove "Colette Salmand", die Sprache ist wie gewohnt karg und einfach, manche Bilder besitzen eine bedrängende Prägnanz. Die Heldin ist vollkommen passiv, ihr aufgeregtes Umhergehen überdeckt nur die innere Apathie. Sie handelt den Erwartungen anderer entsprechend und wird zum Spielball der Männer, denen sie sich unterwirft. Colette entflieht dem gestrengen Vater, der ihr noch als alter Mann die Schuld an seiner neuen Liason geben wird, manövriert sich in eine ausweglose Liebesbeziehung hinein und fühlt sich sogar noch erhöht, weil sie die Seele ihres Freundes zu retten glaubt. Das Schicksal nimmt seinen Lauf - aber in der Boveschen Manier.

Colette irrt durch Paris, erpresst etwas Geld von ihrem Vater und kehrt in die Schweiz zurück. Besessen von Erlösungsphantasien hatte ihr Freund Jacques seinen 1917 schwer verwundeten Bruder auf dem Feld rächen wollen, war für untauglich erklärt worden und ermordete daraufhin den Arzt. Ohne seiner Verlobten die Tat zu gestehen, bittet er sie um Beistand und holt sie zu sich ins Exil. Nach und nach kommt die Wahrheit ans Licht, aber aus dem Liebespaar ist längst eine Zwangsgemeinschaft geworden. Als das Geld verbraucht ist, treten Colette und Jacques eine Odyssee durch Frankreich an. In Nizza gewährt ihnen Colettes Mutter eine Weile Asyl, aber Jacques, inzwischen von Schuldgefühlen zerrüttet, hält die demütigende Freundlichkeit nicht aus. Er kehrt nach Paris zu seiner Familie zurück und stellt sich der Polizei. Seine Freundin, die die Beziehung zu Jacques wie eine Berufung auf sich nimmt, folgt ihm und sucht ihn immer wieder auf, auch als er sie abweist. Erst ganz am Schluss deutet sich ein Hoffnungsschimmer an: Colette überwindet ihre Erstarrung und schmiedet Pläne.

Nicht die Handlung, sondern die Atmosphäre macht die Faszination dieses Romans aus; Bove gelingt eine beklemmende Verdichtung. Wie ein zäher Nebel umwabert Angst und Verzweiflung die Akteure und vergiftet sämtliche Beziehungen. Nirgends hin zu gehören, ist eine Grundkondition Bovescher Gestalten. Überall sind sie fehl am Platze. Sicherheit, ob materieller oder emotionaler Art, existiert nicht, auf jeden Aufstieg folgt unweigerlich der Niedergang. Bove kannte diese Zustände aus eigener Anschauung, fast scheint es, als habe er den Schrecken literarisch bannen wollen.

Der Wechsel zwischen gegensätzlichen Milieus und sozialen Rollen, von "Armand" (1925) bis "Colette Salmand" (1936) vielfach variiert, prägt schon Boves Kindheit. Von dem heruntergekommenen Haushalt seiner Mutter, die wegen Zahlungsunfähigkeit fortwährend auf die Straße gesetzt wird, gelangt er in das elegante Umfeld seiner Stiefmutter Emily Overweg, der zweiten Frau seines Vaters, und wird plötzlich auf Internate in England und in der Schweiz geschickt.

Die Familie: ein einziges Desaster

Die Klebrigkeit familiärer Bindungen erfährt er bis zu seinem Tod: sein Vater trennt sich niemals richtig von seiner ersten Familie, und die leibliche Mutter samt dem jüngeren Bruder León machen zunächst Emily und später Emmanuel für ihr Schicksal verantwortlich und fordern Unterhaltszahlungen. 220 Briefe Boves bewahrt León auf, und in allen ist von Geld die Rede. Obwohl er nach der Veröffentlichung von "Meine Freunde" (1924) berühmt wird, steht er wegen verwandtschaftlicher Verpflichtungen und einer Scheidung dauernd vor dem finanziellen Ruin. León, der zu Boves Lebzeiten niemals einer Arbeit nachgeht, hebt von den Zeitungsartikeln über seinen Bruder nur die Verrisse auf.

Unter den dürren Fakten vibriert die Paranoia, kein Wunder, dass sämtliche Romane sich in ihren Stimmungslagen ähneln. Ein leeres Zimmer, ein ungemachtes Bett, ein rätselhaftes Geschenk - plötzlich spürt man das Elend, das jeden zu verschlucken droht. In "Colette Salmand" geht es um Bündnisse. Es sind Bündnisse ohne schriftliche Grundlage, sie werden einfach so geschlossen, man kann sich ihnen nicht entziehen, sie nicht kündigen, sie sind Schicksal. Der Roman endet so, wie er beginnt: doch dieses Mal erhält Colette unerwarteten Besuch. Es sind die Eltern ihres ehemaligen Freundes. Sie überreichen ihr eine Puppe. "Er hat wie niemand sonst einen Sinn für das treffende Detail", schreibt Beckett über Bove.

Emmanuel Bove: Colette Salmand. Un caractère de femme. Roman. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jean-Luc Bitton und einem Gespräch mit Peter Handke. Friedenauer Presse, Berlin 2001. 182 Seiten, 38 DM.

Ramto
03.12.2001, 07:48
Familie - Disaster ...Schlimm für den Betroffenen!
Das ist so die Art von Lektüre, die einen vergleichen läßt, wie gut oder schlecht man es selbst getroffen hat!...
Und dass die Sache keine Patina ansetzt ist meines Erachtens auch ein Kriterium für den Begriff der Kunst.

Danke, HansA, für die detaillierte Darstellung! :)