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Vollständige Version anzeigen : No Woman, No Cry


HansA
30.12.2001, 15:23
Keine Musikszene gilt als so frauenfeindlich wie HipHop. Warum? Der Rapper Wyclef Jean klärt auf.

Warum das durchschnittliche HipHop-Video so viele Frauen in String-Tangas zeigt, die ihren Hintern in die Kamera halten? Okay. Neun von zehn HipHop-Videos zeigen wackelnde Hintern. Wir nennen sie mittlerweile nur noch "Bootie-Videos". Ich glaube, der Grund, dass es so viele davon gibt, liegt darin, dass der durchschnittliche Mann gern ein gutes Stück Hintern sieht. Ein gutes Stück Hintern einfach so im Fernsehen - für manche Männer ist das ein Plus. Es ist eine Fantasie. Etwas, das viele in der Realität niemals zu fassen bekommen. Deshalb sind die Kerle verrückt danach. Und deshalb sagen die Frauen: Ich würde gern im nächsten Video mitspielen. Das Musikgeschäft ist voll von schönen Frauen. Ich glaube, Frauen haben seit Anbeginn im Fernsehen mit dem Hintern gewackelt. In den Fünfzigern hatten sie halt noch Mini-Röcke an, und die Konservativen liefen Sturm dagegen. Aber die Leute mochten das schon immer.

Perfekte Hinterteile sind Stoff für Fantasien. Die Realität sieht natürlich oft anders aus. Meinen Song "Perfect Gentleman" habe ich einer Striptease-Tänzerin gewidmet. Ich versuche klar zu machen, dass sie kein Stück Dreck ist, nur weil sie halbnackt vor Männern tanzt. Wie alle meine Songs basiert er auf der Realität. Auf dem, was ich im Getto gesehen habe. Die Tänzerin, von der ich spreche, heißt Maxine. Als ich zur Schule ging, haben viele Mädchen bei uns in Brooklyn gestrippt, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Maxine lernte ich an der High School kennen. Ich war damals 17. Sie war 19 und hatte entschieden mehr Erfahrungen gemacht, als in ihrem Alter üblich ist: Ihre Mutter war Crack-abhängig, sie kannte ihren Vater nicht, sie hatte ein Kind. Sie entschloss sich zu strippen, sonst hätte sie die Schule verlassen müssen. Alle fragten: Warum tust du das? Niemand kannte die Gründe. Ich war damals sehr verliebt in sie und habe mir immer vorgestellt, sie aus ihrem Elend zu befreien, mit ihr nach Mexiko durchzubrennen und sie zu heiraten. Ich hatte kein Problem damit, dass sie sich vor anderen Männern auszog. Sie musste das tun, um ihr Geld zu verdienen. Das war ihre Sache. Ich wusste damals zum Beispiel, dass ich Musiker werden wollte, aber ich habe bei Burger King gearbeitet oder als tanzender Kellner gejobbt.

Jedes Mal, wenn Maxine mit dem Strippen aufhören wollte, reichte das Geld nicht. Deswegen heißt es im Text "Tränen, die man mit Geld nicht bezahlen kann". Aber sie tat es nicht in erster Linie wegen des Geldes, sondern weil sie ein Ziel hatte. Wenn sie es nur wegen des Geldes getan hätte, wäre sie heute ein Niemand. Was Maxine angetrieben hat, war die Tatsache, dass sie Ärztin werden wollte. Was sie heute auch ist. Eine starke, glückliche und verdammt schöne Frau. Darauf kannst du wetten, wenn ich einen Song über sie schreibe.

"No Woman, No Cry", hat Bob Marley gesagt. Darum geht es. Nein, Frau, heul' nicht. Definitiv. Obwohl wir es alle lieben zu weinen, so wie wir es lieben zu lachen. Wenn du nie geweint hast, fehlt dir einer deiner sechs Sinne. Ich habe nie um Maxine geweint. Die Rolle, die ich in ihrem Leben spielte, war, sie zum Lachen zu bringen. Ich habe sie geneckt und aufgemuntert, wenn sie down war. Ich habe ihr den Song geschickt, bevor ich ihn veröffentlichte. Sie dachte damals schon, ich würde sie aushorchen, weil ich so viele Fragen stellte. Die Zeit mit ihr liegt jetzt zwölf Jahre zurück.

Ein gutes Stück Hintern

Aber der wackelnde Hintern ist nicht die einzige Rolle für Frauen im HipHop. Im HipHop - genauso wie im Rock - gibt es nur wenige weibliche Produzenten. Und wenn jemand wie Missy Elliot Erfolg hat, dann versäumen die Kritiker nie, darauf hinzuweisen, dass sie nicht besonders schlank ist. Würden Kritiker auch über den Bierbauch eines DJs schreiben? Kritiker suchen immer nach den schwachen Stellen und reiten darauf herum. Aber Missy Elliot ist talentiert - und sehr gut in dem, was sie macht. Und neben ihr gibt es einen Haufen anderer Frauen: Denk nur mal an Jill Scott oder Alicia Keys. Frauen müssen immer mindestens doppelt so gut sein wie Männer, nicht nur im Musikgeschäft, sondern in jeder Branche. Männer sind Sexisten. Sie halten sich für die Chefs. Musikerinnen übertreffen häufig die Männer, was ihre Fähigkeiten angeht, einfach weil sie tiefer fühlen.

Vor ein paar Jahren schien HipHop noch ein ultra-männliches Genre zu sein. Als Mike Tyson wegen Vergewaltigung im Knast saß, gab es sogar einige HipHopper, die der "Free Mike Tyson-Kampagne" der Nation Of Islam beitraten. Aber je negativer die Medien darüber berichteten, desto mehr fühlten sich die Kids davon angezogen. Ein familientauglicher HipHop wäre für die Kids langweilig gewesen. Der Reiz besteht darin, dass HipHop direkt von der Straße kommt. Das ist abenteuerlich.

HipHop ist eine Kultur. Die Art, wie die Kids die Hosen hängen lassen oder ihre Schuhe ohne Schnürsenkel tragen - sie wissen teilweise gar nicht mehr, woher das kommt. Sie binden sich ein Kopftuch um oder setzen die Mütze komisch auf. Sie tun das, weil sie es in Videos sehen. Das meiste davon kommt aus dem Gefängnis-Leben, das ist Prison-Life-Style. Schnürsenkel sind verboten, damit du dich nicht aufhängst. Die Hosen hängen immer runter, weil du keinen Gürtel tragen darfst. Die Straße fühlt, dass in Amerika in neun von zehn Fällen die Leute, die im Gefängnis landen, unschuldig sind. Also geben sie sich diese Rebellen-Attitüde und ziehen sich an wie Gefangene. Die Hosen so runterhängen zu lassen, ist ein HipHop-Statement, und gute Hintern in Video-Clips sind ein Mode-Statement.

Es sind nicht nur Weiße, die sich über Sexismus im HipHop aufregen. Für mich gibt es immer diese Gruppe von Leuten, seien sie nun weiß, grün oder lila - ich nenne sie die Pharisäer. Sie richten, am liebsten pauschal, über die Masse der Bevölkerung. Sie tun, als wären sie Heilige. Aber wenn die Tür zugeht, sind die Pharisäer zwanzigmal schlimmer, als das, wovon sie öffentlich reden. Wenn die Leute Rapper kritisieren oder sagen, die Frauen wären Schlampen und Nutten - dann steht dahinter ihre eigene Unsicherheit. Man greift etwas doch nur an, weil man Angst davor hat. Wenn es nichts mit dir zu tun hätte, würdest du es nicht angreifen. Du guckst doch nur hin, weil du unsicher bist. Rapperinnen wie Foxy Brown oder Lil' Kim übererfüllen die Klischees. Sie geben sich als Sex-Babes. Das stört die Feministinnen. Aber ich glaube, zwischen Foxy Brown oder Lil' Kim und Josephine Baker oder Madonna ist kein Unterschied. Sie sind einfach Sängerinnen - und sehr sexy. Madonna hat hundertmal verrücktere Sachen getan als Lil' Kim und Foxy Brown zusammen. Lil' Kim kann mal hier eine Brust zeigen, dort mal den Hintern, aber das reicht bei weitem nicht an Madonna heran, die natürlich auch jahrelang dafür kritisiert wurde. Solche Frauen wird es immer geben. Es ist nie die Mehrheit, nur eine oder zwei, die so frei und stolz mit ihrer Sexualität umgehen. Wenn du mich fragst, sind die meisten Kritiker grundsätzlich verunsichert von starker Sexualität.

Wir kommen aus dem Nichts

Ich bin jetzt 29. Ich habe angefangen, professionell Musik zu machen, als ich 13 war. Den Fat Boys habe ich Kaffee ins Studio gebracht. Habe ihnen bei der Arbeit zugehört. Ich sagte mir: Ich muss etwas mit meinem Leben machen, also mache ich Musik. Mein Bruder ist 28. Er ist Anwalt. Er hat Jura studiert aus dem gleichen Grund, aus dem ich Musik mache. Wenn du daher kommst, wo wir herkommen, nämlich aus dem Nichts, wenn deine Mutter Sozialhilfe bezieht und du mit den Drogendealern aufwächst, wenn du in einem dieser Sozialsilos wohnst, wenn du mit 13 deine erste Knarre in der Hand hast - dann denkst du schnell, du hättest keine Wahl. Du steigst aufs Dach und ballerst aus Spaß in der Gegend herum. So war das bei mir. Aber irgendwo in meinem Kopf erwachte der Gedanke: Ist das das Leben, das du dir vorgestellt hast? Du musst entscheiden, was du mit deinem Leben machen willst.

Wenn jemand nichts hat und sich die Schule sogar verdienen muss wie Maxine, lernst du intensiv. Du wirst so neugierig auf Mathematik, die Pyramiden, den Mond. Das Mysterium des Gettos ist ganz einfach: so wie der Song "Perfect Gentleman". Wir kommen aus dem Nichts und wollen, dass die Welt unsere Kultur sieht. Ich bin verdammt stolz darauf, dass die Welt das Getto imitieren will, dass die Welt den Rap imitiert - eine Subkultur aus dem Nichts, aus der etwas Bedeutungsvolles entstanden ist. Das sagt etwas darüber wie stark und mächtig die Leute aus dem Getto wirklich sind - auch wenn die meisten von ihnen das nicht wissen.