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Vollständige Version anzeigen : Im Wunderland der Sinnenlosigkeit


HansA
29.12.2001, 13:55
Wände beben, an manchen Stellen wackelt der Boden - in Potsdam steht ein Haus, in dem sich Kinder zurechtfinden, die taub sind und blind. Als Benita Braun-Feldweg das Heim baute, erwischte sie einen Zipfel von einer fremden Welt, von einem Leben ohne Bewusstsein.

Am Anfang ein Versuch: Sie will sich fühlen wie vom fremden Stern. Will nichts hören, nichts sehen. Was spür' ich, fragt sie sich? Was denk' ich? Sie denkt. Schon falsch. Sie denkt, dass sie nichts denken sollte. Sie denkt, dass sie keine Worte haben sollte. Schließlich hat sie nie einen Menschen Worte formen sehen, nie gehört, wie sie klingen. Sie will auch vergessen, was Worte wollen. Was ist das: blau, Baum, zart? Bin ich jetzt eher Tier als Mensch?, fragt sie sich. Ich bin ein taubblinder Mensch, denkt sie.

So war es, am Anfang, als Benita Braun-Feldweg, Architektin, versucht hat, sich hineinzuversetzen in die Sinnenlosigkeit von taubblinden Menschen. Natürlich ist sie gescheitert am Sich-Reinfühlen. Es reicht einfach nicht, im Büro das Licht auszumachen, um sich im Kopf eines Taubblinden wiederzufinden. Sich ausklinken zu wollen aus dem Wahrnehmungsrahmen des Menschen. Das ist ähnlich, wie nachts in den Himmel zu starren. Wo hören die Sterne auf? Wo ist das Universum drin? Vollkommen unbekannte Dimensionen. Das Bewusstsein fasst sie nicht.

Vor drei Jahren hat die 36-Jährige angefangen mit dem Sich-Reindenken. Zusammen mit drei Kollegen. Sie, die "generalplaner bf architekten" mit Sitz in Berlin und Würzburg, hatten den Auftrag bekommen, das Taubblindenheim in Potsdam-Babelsberg zu sanieren, das älteste in Deutschland. 1887 wurde hier das erste taubblinde Mädchen, Hertha Schulz, von Diakonissinnen aufgenommen. 1906 wurde das Oberlinhaus als Heim eröffnet. Seit 1945 moderte das Haus, in dem hör- und sehbehinderte Kinder leben und zur "Schule" gehen, vor sich hin.

Ein paar Gesten, mehr nicht

Die Aufgabe der Architekten: Sie sollten neue Wohnkonzepte und neue Räume für den Schulbetrieb entwickeln. Vor allem sollte ein neuartiges "Wegeleitsystem" entstehen, um den Kindern, die bisher allein auf die führende Hand eines Betreuers angewiesen waren, eine zusätzliche Orientierung zu ermöglichen. Denn Vorbilder gibt es kaum. Acht Taubblinden-Einrichtungen existieren in Deutschland. Nur sechs von ihnen sind gleichzeitig eine Schule. Keine ist neu.

Benita Braun-Feldweg und ihre Kollegen begannen also, nach Erkenntnissen über die Welt von Taubblinden zu suchen. Sie sind rar. Wie sollten die Behinderten auch von sich berichten? Fortgeschrittene kommunizieren über ein Alphabet, das mit den Fingern in die Handfläche buchstabiert wird. Viele lernen nach unendlichen, von der Hand der Betreuer geführten Wiederholungen gerade mal die Gesten für "Hunger" - Hand vom Bauch an den Mund. Oder für "müde" - Hand an die Wange. Die meisten "sprechen" gar nicht.

Denn Taubblindheit ist eben nicht nur die Addition von Taubheit und Blindheit, erfuhren die Architekten von den Experten des Taubblindenwerks in Hannover. Da beide Sinne fehlen, könne einer den anderen nicht kompensieren. Auch die intellektuelle Gesamtentwicklung werde schwer geschädigt: Ohne Sprache kann der menschliche Verhaltenskodex nicht vermittelt werden.

In Deutschland, so wird geschätzt, sind etwa 10 000 Menschen taubblind. Die schwerste Form, etwa durch Drogenmissbrauch von Müttern während der Schwangerschaft hervorgerufen, ist die seltenste. Von ihr sind nur etwa 1500 Menschen betroffen. Aber auch, wenn noch Hör- oder Sehreste vorhanden sind, bleiben Taubblinde ihr Leben lang auf andere angewiesen.

Über all das hat Benita Braun-Feldweg gelesen. Sie hat mit Therapeuten gesprochen und ist nach Sint Michielsgestel in Holland gereist, wo es einen ganz modernen Taubblinden-Komplex gibt. Aber am aufschlussreichsten fand sie, die Kinder selbst zu beobachten. Das kleine, dunkelhaarige Mädchen, wie es auf dem Boden liegt, die Finger in ein Schafsfell gekrallt, denn das gibt Wärme, wenn die Therapeuten mal nicht streicheln können. Der 14-Jährige mit dem Hörrest, der durchdringend "iiiiiii" macht und sich panisch aufs Ohr klopft, wenn das Radio leiser gestellt wird. Der schmale Blonde, der sich dicht vor den Fernseher stellt, weil er das Flimmern wahrnehmen kann, der aber nicht weiß, was ein Film ist. Der hochaufgeschossene 16-Jährige, der bei Menschen als Erstes nach der Armbanduhr tastet. Armbanduhrenträger sind mächtig, weil Essensbringer, Radioanmacher und Tröster.

Am Ende dieses mehrmonatigen "Aufsaugprozesses", wie Benita Braun-Feldweg es nennt, stand ein Konzept. Es beruhte auf der simplen Idee, die Informationen, die den Taubblinden fehlen, über die noch vorhandenen Sinne zu übermitteln. Vorwiegend über den Tastsinn, ein wenig über den Geruchssinn und für die Kinder, die wenigstens schemenhaft noch etwas wahrnehmen, auch über Licht und Farben.

Wer jetzt über den frisch gepflasterten Hof auf das Taubblindenheim zuläuft, der hat plötzlich ein unangenehmes Erlebnis. Da gibt, etwa zehn Meter vor dem Eingang, auf einmal der Boden unter den Füßen nach, glibbrig, iih! Die Steinquader sind an dieser Stelle gegen gummierte Weich-Platten ausgetauscht worden. "Eine Art Entfernungsmesser soll das sein für die Kinder, die ja nicht sehen können, wie weit sie von der Tür entfernt sind", sagt Benita Braun-Feldweg. Sie lacht und zeigt über den Hof, der im Winkel des L-förmigen Hauses liegt. "Rechts, das ist der Altbau, da wohnen die Kinder." Geradeaus: die lange Gerade des L. Unten die Werk- und Therapieräume, oben das neu aufgesetzte Schulgeschoss.

Die Geschwindigkeit der Farben

Das Haus ist fast fertig, jetzt sind nur noch Kleinigkeiten, vor allem Lackierungen, zu erledigen. Deshalb sind die 26 Kinder mit rund 30 Betreuern und Lehrern aus ihrem Behelfsquartier in der Nachbarschaft schon aus- und ins neue Heim eingezogen. Langsam entfaltet sich wieder ein geregelter Tagesablauf: gemeinsamer Beginn im so genannten Morgenkreis, dann Unterricht. Konventionelle Fächer gibt es kaum. In Sprech-, Seh- und Hörerziehung geht es vor allem darum, die Fähigkeiten zur Kommunikation zu verbessern. "Alltagsschule" werden jene Stunden genannt, in denen die Kinder lernen, den Tisch zu decken oder Essen zu machen. Lernziel: mehr Selbstständigkeit.

Im Flur steigt der Farbdunst scharf in die Nase. Der Maler lackiert gerade ein gewelltes Band aus Holz, das wie ein langes Banner an der Wand entlangflattert. Alle drei Meter, immer gegenüber einer Tür, sind an der Rückseite kleine Apparaturen angebracht. "Das ist das Klangband", sagt die Architektin. "Fühlen Sie mal." Das Holz bebt. Einen so tiefen Dauerton gibt der kleine Rekorder von sich, dass man ihn kaum hört, aber dafür kitzelt er die Hand, krabbelt den Arm hoch. Der Vibrationsrhythmus ist deutlich zu spüren. Ein schnelles Zittern.

Bei ihren Beobachtungen hat Benita Braun-Feldweg nämlich festgestellt, dass Taubblinde mit einer Hand ständig Kontakt zur Wand halten. Das brachte sie auf die Idee, dort Orientierungshilfen zu befestigen. Die Kinder tasten sich also am Holzband entlang und sollen, wenn sie das Vibrieren erreichen, wissen: Gegenüber ist eine Tür. Sie sollen auch wissen, welche: Denn von Tür zu Tür sind die Rhythmen unterschiedlich. Gegenüber dem Eingang zur Hör- und Sprechtherapie ist er schnell und unregelmäßig. Bei der Seherziehung langsam. Gegenüber dem Raum, wo auf dem Wasserbett in Gebärmutteratmosphäre gekuschelt wird, sendet das Gerät einen langen, ruhigen Ton durchs Holz. Die weichen Krümmungen des Tast-Bandes sollen zusätzliche Stimulanz sein, ein Handschmeichler. Jegliche sinnliche Abwechslung ist erwünscht, schafft zusätzliche "Erlebnisse" auf dem Weg durch den etwa 30 Meter langen Altbauflur.

Dass die Architekten an den Grundriss des Altbaus gebunden waren - Abriss und Neubau wären zu teuer gewesen - das hat sich als Segen erwiesen: wenigstens ein Wegweiser ins neblige Land der Sinnenlosigkeit. "Wer weiß, was wir gebaut hätten, wenn wir alles aus dem Boden hätten stampfen sollen ...", sagt Benita Braun-Feldweg schulterzuckend. Nur das Obergeschoss ist völlig neu. Als Braun-Feldweg die Tür öffnet, spuckt die Fantasie Alice-Assoziationen aus - der Besucher wird hineingesogen in ein zuckertütenbuntes Wunderland.

Eine lange Flucht öffnet sich, quietschpink, und mit gewellten Wänden, die in der Mitte einen geraden Pfad von etwa einem Meter Breite offen lassen. Rechts und links gehen Türen ab; wie überall im Haus sind auch hier die Rahmen in grellen Farben gestrichen, um den Kindern mit Sehrest eine Orientierungsmöglichkeit zu geben. "Knallige Farben erscheinen ihnen in einem anderen Grauton als Weiß", erklärt Benita Braun-Feldweg.

Das Farbkonzept war ihre Idee. Braun-Feldweg kennt sich mit der "Geschwindigkeit" von Farben aus, doch, ja, Geschwindigkeit. "Kältere, also leichtere Farben fließen mit der geschwungenen Wand mit. Wärmere Farben, die dichter sind, wirken statischer", erklärt die Architektin und legt die Hand auf einen kleinen Fleck Lachsrosa rund um den Lichtschalter.

Lachsrosa stoppt nämlich, naja, zumindest theoretisch, den Blick. Der Fleck soll signalisieren: Verlangsame den Schritt, betätige den Schalter. Klingt verrückt. Und da kann Braun-Feldweg nicht mal widersprechen. "Ob das, was wir uns ausgedacht haben, wirklich nützlich ist für die Kinder, wissen wir nicht", gibt sie zu. "Es ist so wenig bekannt über die Wahrnehmungen von Taubblinden. Wir können nur unsere Schlussfolgerungen anbieten." Und wieder ist da die Kapitulation vor der Unfassbarkeit eines Lebens ohne Sinne.

Düfte ziehen von Raum zu Raum

Lange hat Benita Braun-Feldweg sich von diesem Phänomen faszinieren und ängstigen, schließlich ärgern lassen. Aber irgendwann kam sie zu der Entscheidung, dass "Schluss sein muss mit dem Sich-Reindenken". Die Distanz ging verloren. Sie hatte immer neue Ideen. Sie hätte den Kindern zum Beispiel so gerne etwas von der Moderne vermittelt, mit Touch Screens oder anderen modernen Hilfsmitteln. Da hat sie sich dann selbst ermahnt: Dieses Haus ist kein Disneyland der Sinnesreize. Und du bist keine Therapeutin.

Im Wohntrakt sind alle Stockwerke ähnlich aufgebaut: Hintereinander liegen der Aufenthaltsraum, die Küche samt Essplätzen sowie ein Wintergarten an der Vorderfront. Es gibt durchlässige Wände und Kippfenster, so sind alle Räume miteinander verbunden. Prinzip: Der Duft der Pflanzen im Wintergarten und des Essens aus der Küche durchziehen alle Räume. Und vermitteln den Kindern auf lange Sicht eine Vorstellung von Jahres- und Tageszeiten. Sommer gleich Rose? Mittag gleich Erbsensuppe? "Hoffentlich", sagt Benita Braun-Feldweg.

Ein paar Wochen wohnen die taubblinden Kinder nun schon im sanierten Heim. Die ersten Erfahrungen waren nicht alle gut. Die Akustik im neuen Schulgeschoss ist schlecht. Es hallt, und darauf reagieren die Kinder mit Hörrest fast panisch. Sie geben ihre Laute, die manchmal an Quieken, Grunzen oder Schnarchen erinnern, sehr viel lauter als sonst von sich, um das Nachhallen zu bekämpfen. Was wiederum für die Betreuer ungewohnten Stress schafft. Und auch Benita Braun-Feldwegs Vorliebe für Quietschpink ruft Unmut hervor. Uns sticht die Farbe in die Augen, und für die Kinder hat sie keinerlei pädagogischen Wert, klagen die Betreuer. Es gibt noch einiges zu tun für die Architekten.

Benita Braun-Feldweg ist gespannt, was am Ende "auf der anderen Seite ankommt" von ihrem Konzept. Was bei ihr selber hängen geblieben ist von diesem Projekt? Schwer zu sagen. Manchmal, beim Kampf um Einsicht in Leben ohne Aussicht, meinte Braun-Feldweg einen Zipfel erwischt zu haben von ihrem Leben, bevor das Bewusstsein einsetzte. Säuglingserinnerungen?

"Da kamen mir Gegenstände oder Worte so vor, als sähe, hörte ich sie zum ersten Mal und fände sie ungeheuer seltsam", sagt Benita Braun-Feldweg. Lampe. Komisches Wort, komisches Ding. Lampelampelampelampe. Da verrutscht die Realität. Das macht ein bisschen Angst. Aber solche Momente hielten nicht lange an. Es sei immer nur ein ganz kleines Staunen gewesen, sagt Benita Braun-Feldweg. Klein, weil blitzartig wieder vorbei.

Die Architektin hat gerade mit einem neuen großen Projekt begonnen, eines, bei dem es wieder darauf ankommt, den Sinnen eines gesunden Menschen zu gefallen. Das, was für sie normal ist, die nie innehaltende Flut von Bildern und Tönen, hat das kleine Staunen längst erschlagen.

Ramto
29.12.2001, 15:15
Was mich an solch` Betroffenen immer erneut beeindruckt, das ist ihre beispielhafte Lebensbejahung, die Art und Weise, sich freuen zu können und Dankbarkeit zu zeigen!

Jede Konfrontation mit so schwer Behinderten erzeugt in mir selbst das Gefühl des vom Schicksal überreich Beschenkten und die Gewissheit, dass materielles Streben mit zu den armseligsten Verhaltensweisen des Menschen gehört.

Ron
15.07.2004, 22:27
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