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Vollständige Version anzeigen : Politische Literatur


HansA
25.12.2001, 12:08
Bester Baumeister, fähigster Feldherr und modernster Monarch - John C. G. Röhls Biografie über Kaiser Wilhelm II. und die Epoche, die seinen Namen erhielt

Fast 1200 Seiten und noch einmal ein paar Hundert Seiten für den Anmerkungsteil, zusammen 1437 Seiten. Das ist nur der zweite Teil eines Werkes, dessen erster Band "Die Jugend des Kaisers 1859-1888" mit 980 Seiten bereits 1993 erschienen ist. Ein dritter Band steht noch aus, wenn der Autor es damit bewenden lässt. Denn auch in diesem zweiten Band ist John C. G. Röhl dem Leben Wilhelms II. nur bis zur Jahrhundertwende gefolgt, also nur den ersten zwölf Jahren seit der Thronbesteigung im "Dreikaiserjahr" 1888. Wenn er in diesem Stil weitererzählt, wird er angesichts der Zäsur des Weltkrieges noch zwei bis drei Bände bis zum Thronverzicht 1918 brauchen, und dann noch einmal zumindest einen Band bis zu seinem Tod im holländischen Exil 1941. Dann wird das Gesamtwerk auf 6000 bis 7000 Seiten angewachsen sein. Das alles über einen Monarchen, der zwar eine verhängnisvolle Rolle in der deutschen Geschichte und damit beim Untergang der europäischen Ordnung gespielt hat, als Person aber im Grunde nicht sonderlich interessant und schon gar nicht sympathisch ist.

Gibt dieser letzte Hohenzoller dennoch einen solchen Umfang her? Als Persönlichkeit gewiss nicht, der Mensch Wilhelm war eine schillernde Figur, wie von klugen Beobachtern - beiden Bismarcks, seiner Großmutter Queen Victoria, den russischen Verwandten, den Zaren Alexander II. und Nikolaus II. - sehr klar gesehen wurde, von distanzierten Beobachtern wie Graf Kessler und Walter Rathenau ganz abgesehen. Dennoch nennt man eine ganze Epoche nach ihm die "Wilhelminische". Aber hat Wilhelm seine Zeit geprägt oder sie ihn?

Merkwürdigerweise interessiert sich Röhl aber für die wilhelminische Epoche gar nicht, es ist immer nur die eine Person, die er bis in die kleinsten Verästelungen verfolgt, von der unglücklichen Geburt mit einem verkrüppelten Arm, der Quälerei durch seine Mutter, die durch barbarische Prozeduren den Geburtsfehler zu beheben suchte bis zu der frühen Deformation seines Charakters, der später in krankhaftem Maße von Selbstliebe und Lobrednerei geprägt war. Das alles wusste man schon vorher. Aber es muss zugegeben sein, dass der deutsch-englische Autor eine kaum übersehbare Fülle von neuen Details ausgegraben hat. Solche Akribie hätte man gern einem wichtigeren Gegenstand zugewendet gesehen. Aber immer nur Wilhelms absonderliche und oft abstoßende Charakterzüge?

Man weiß nicht, ob man den Autor bewundern oder bemitleiden soll, dass er Jahrzehnte seines Lebens daran wendet, diesem "Fabeltier unserer Zeit" von der Geburt bis zum Tode zu folgen. Immerhin, was sich doch auch nach anderthalb Jahrhunderten alles noch zu Tage fördern lässt! Im Familienarchiv der Windsors zum Beispiel die Korrespondenz des Kaisers mit seinen englischen Verwandten. Daneben stehen dann die Tagebücher seines Generalstabchefs Graf von Waldersee, deren Original hier zum ersten Mal berücksichtigt wurden. Auch die ungeschminkten Notizen der russischen Verwandtschaft, auf die sich Wilhelm II. so viel zugute tat, sind ausgewertet. Nun wird deutlich, dass ihn die Windsors ebenso wie die Romanows mit befremdeter Verwunderung sahen, mit einem Staunen, in das degoutierte Verachtung gemischt war.

Großes Gewicht legt der Autor auf den Antisemitismus des Kaisers, der ihm einer der Schlüssel zur "kaiserlichen Persönlichkeit" ist. Das sei ein "elementarer Judenhass" gewesen, ein "Kernelement" der kaiserlichen Gedankenwelt sogar. Selbst die Entlassung Bismarcks gehe letzten Endes auf diesen Antisemitismus zurück. Die Nachricht, dass sich Bismarck auf Vermittlung seines Bankiers Bleichröder mit dem Zentrumchef Ludwig Windthorst getroffen habe, sei der letzte Anstoß gewesen, den Reichsgründer "rauszuschmeißen". War es wirklich so einfach? Der Kaiser stand ja andererseits auf fast freundschaftlichem Fuße mit den Rathenaus, Vater und Sohn, und dem Großreeder Albert Ballin, der häufiger bei ihm zu Gast war, als die meisten schlesischen und ostpreußischen Magnaten. Verarmten preußischen Adligen soll er empfohlen haben, junge, reiche und reizvolle jüdische "Stuten" zu heiraten, damit Geist, Schönheit und Geld in die Aristokratie komme. Das Wort mag so nie gefallen sein, es zeigt aber die Freiheit Wilhelms II., der seine Ansichten wechselte wie seine Günstlinge.

Bei einem solchen ausgreifenden Werk neigt man dazu, zuerst die Bedenken zu formulieren. Aber die Ungerechtigkeit darf nicht so weit gehen, dass man die Verdienste des Autors nicht sieht. Deshalb soll ausdrücklich gesagt werden, wie viel Röhl zum ersten Mal gesehen hat, was bis dahin unbeachtet blieb. Merkwürdigerweise interessiert einen ja dieses Leben noch nach mehr als einem halben Jahrhundert. Immer wieder ist man aber konsterniert, wie widersprüchlich Wilhelm II. war.

Einerseits legte der junge Monarch offensichtlich schon in den ersten Jahren Wert darauf, ein Geflecht von persönlichen Beziehungen zu schaffen, wobei er zuweilen unkonventionelle Wege wie bei "Bierabenden" ging, zu denen er zwei Dutzend Herren um sich versammelte, die in dieser Runde vergleichsweise ungeniert sprechen konnten. Andererseits weitete er die "Neujahrsgratulationen" zu einem sehr formellen Zeremoniell aus. Er verlangte von seinen Generälen, dass auch "alle Befehlshaber vom Armee-Corps" ihm dabei ihre Aufwartung machten, weshalb denn auch die verdiente alte Generalität seines Großvaters im Weißen Saal zu erscheinen hatte. Er wollte der oberste Bauherr der Deutschen sein, darin Hitler ähnlich, der ebenfalls Troost wie Speer und Gießler genaue Anweisungen gab, wie sie zu bauen hatten. Es ist einem angesichts der vielen banalen Vergleiche fast unangenehm - aber vieles erinnert bei Hitler tatsächlich an Wilhelm II. Beide fühlten sich als verhinderte Künstler und sagten gelegentlich zu ihrer Umgebung, dass sie große Baumeister geworden wären, hätte sie das Schicksal nicht verdammt, die Nation "in herrliche Zeiten" zu führen wie der Kaiser in der bekannten Rede sagte. Wilhelm II. zeichnete ungeniert in die Pläne seiner Baumeister hinein, bei Ernst von Ihne ebenso wie bei seinem Günstling Franz Schwechten, der ihm das "Romanische Viertel" um die Gedächtniskirche bauen musste. Paul Wallot, der Architekt des Reichstages, verbat sich das Korrekturverlangen des Kaisers allerdings vergleichsweise brüsk. Aber zugleich war Wilhelm doch so modern, dass er die Neuartigkeit von Alfred Messels "Kaufhaus Wertheim" am Leipziger Platz sah, Alfred Muthesius schätzte und Bruno Paul protegierte, drei der Modernen in der Architektur.

Daneben steht dann wieder eine groteske Selbstüberhebung, auch in militärischen Dingen. In den neunziger Jahren erklärte er apodiktisch, dass "der Schwerpunkt zukünftiger Kriegsführung bei der Marine" liegen würde, was seiner Flottenpolitik präludierte und zur vielleicht verhängnisvollen Vernachlässigung der Armee führte. Auch wo man dem Kaiser gerecht werden will, ist man immer wieder irritiert angesichts einer Selbstsicherheit, die in krankhafter Selbstliebe ihre Erklärung hat.

Das Merkwürdigste an diesem gewaltigen vier- und vielleicht fünfbändigen Unternehmen ist, dass die Wandlung Deutschlands von spätbiedermeierlicher Manufakturwelt in einen modernen Industriestaat kaum eine Rolle spielt. Bei Wilhelms Geburt im Januar 1859 hatten die deutschen Einzelstaaten, die 1871 zu einem "Deutschen Reich" zusammengeschlossen wurden, ungefähr 37 Millionen Einwohner; am Vorabend des ersten Weltkrieges hatte Deutschland 67,8 Millionen Einwohner. Während dieser Jahrzehnte war aus dem Land ein dynamischer Industriestaat in der Mitte Europas geworden, der Frankreich wirtschaftlich schon überholt hatte und dabei war, England auch in ökonomischer Hinsicht Paroli zu bieten. Und es war wirklich Wilhelm, der diesen Weg fasziniert begleitete und vorantrieb. Die neuen Naturwissenschaften förderte er persönlich so nachdrücklich, dass die "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft", die heutige Max-Planck-Gesellschaft, seinen Namen zu Recht trug. Der Kaiser war tatsächlich ein Mann der Moderne.

Es wäre noch viel zu sagen, zum Beispiel über den Schlachtflottenbau, den sehr späten Erwerb von Kolonien und den verderblichen, am Ende tödlichen Weg in die "Weltpolitik", die in all dem zum Ausdruck kam. Aber in ein paar Jahren werden wir angesichts weiterer Bände ja genügend Gelegenheit haben, davon ausgiebig zu sprechen. John C. G. Röhl wird dann achtzig oder neunzig Jahre alt sein.
John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900. CH. Beck Verlag, München 2001. 1437 Seiten. 88 DM.

HansA
28.12.2001, 12:34
Militärgeschichte galt hier zu Lande lange Zeit als anrüchig. Daher distanzieren sich die Herausgeber gleich zu Beginn von "skurrilen Waffen- und Uniformspezialisten" und versprechen, die Kriegshandlungen in ihren historischen Zusammenhang zu stellen. Neben bekannten Schlachten wie Salamis, Sedan und Stalingrad werden auch ferne Schauplätze vorgestellt wie das syrische Ain Dschalut, wo die Mameluken dem mongolischen Reiterheer 1260 eine schwere Niederlage zufügten.

Der Blick der Autoren richtet sich in erster Linie auf die Frage nach den militärischen und politischen Auswirkungen der einzelnen Auseinandersetzungen. So entschieden die Preußen 1866 bei Königgrätz nicht nur den Krieg für sich, sondern konnten obendrein die Österreicher dauerhaft aus Deutschland verdrängen.

Während Königgrätz also eine Entscheidungsschlacht im doppelten Sinne darstellt, wurde Cold Harbor 1864 zum "Musterbeispiel einer entscheidungslosen Schlacht". Dierk Walter schildert wie sich in Cold Harbor, unweit von Richmond, dem Regierungssitz der Konföderierten, die Männer von General Robert S. Lee hinter massiven Erdwerken verschanzten. Längst war der Spaten im Sezessionskrieg zur wichtigsten Waffe geworden. Als Oberbefehlshaber Ulysses S. Grant die Unionstruppen am Vorabend der Schlacht über den bevorstehenden Frontalangriff unterrichtete, nähten zahlreiche Männer Namensschilder an ihre Mäntel, damit man ihre Leichen später identifizieren konnte. Indem Walter auch die Perspektive der Soldaten berücksichtigt, erhält der Leser hier eine Ahnung von den Schrecken einer Schlacht - ein Aspekt, der bei anderen Autoren dieser Anthologie nicht genügend berücksichtigt wird.

Gibt es noch entscheidende Schlachten? Nein, glauben die Herausgeber. Gegenwärtig gebe es einerseits "niedrigschwellige" Kriege, bei denen zumindest eine Konfliktpartei als irregulärer Verband kämpft. Andererseits werden hochgradig technisierte Kriege geführt, wie von der Nato 1999 gegen Jugoslawien.

Stig Förster, Markus Pöhlmann und Dierk Walter (Hg.): Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai. CH. Beck, München 2001. 416 Seiten. 49, 80 DM.

HansA
30.12.2001, 14:25
Franz-Maria Sonners Roman-Rückblick auf die Stadtguerilla: "Die Bibliothek des Attentäters"

Vielleicht hätte "Die Bibliothek des Attentäters", Franz-Maria Sonners Roman über das Ende der "Rote Armee Fraktion" (RAF) und ihr Umfeld, in diesem Herbst noch einmal eine Debatte über den westdeutschen Linksterrorismus seit den 70er Jahren auslösen können. Immerhin ist seit einigen Jahren zu beobachten, besonders anhand etlicher Filme und Romane, dass dieser Komplex an der öffentlichen Bewusstseinsschwelle immer noch eine seltsam schattenhafte Präsenz besitzt - so, als steckten in den bis zur Auflösungserklärung im Jahr 1998 reichenden Aktivitäten der RAF einerseits Potentiale für allerlei Mythenbildungen, andererseits auch Bruchstücke der noch immer tabubelasteten bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte.

Das Zeug zum Auslöser einer solchen Debatte hätte Sonners Roman mit seiner halb fiktiven, halb authentischen Fabel über ein unaufgeklärtes Attentat durchaus gehabt. Sonner hat aus einigen Aktionen der "Rote Armee Fraktion" - etwa den Morden an Schleyer, Ponto und Karry - sozusagen die terroristische Modellaktion eines Einzelgängers geformt, um so den Blick noch einmal auf originäre Schauplätze - und Motive - dieser eigenartigen Kleinkriege in der Bundesrepublik zu lenken. Doch dann kam der 11. September: und plötzlich wirkten alle Aktivitäten der einstigen Stadtguerilla eher wie Sandkastenspiele, nachdem nun in New York und Washington die terroristischen Schlachtfelder einer anderen Zeit sichtbar geworden waren.

Die gute alte Zeit und ihre Begründungen

Aus dem Blickwinkel von "ground zero", wo mit den Symbolen des Westens ja auch die Motive ihrer Zerstörer in rätselhaften Trümmern liegen, liest sich Sonners Roman jetzt fast wie eine Geschichte aus der guten alten Zeit - als zu revolutionären Handlungen ihre Begründungen noch gleich mitgeliefert werden konnten.

Die provokante Pointe in "Die Bibliothek des Attentäters" ist jedenfalls, dass ein eigenbrötlerischer Randgänger der linksradikalen Szene, der Fernsehjournalist und Bücherliebhaber Jakob Amon, 1984 aus einem präzisen Motiv zu einer impulsiven, aber auch dilettantischen Tat schreitet. Er entdeckt, dass der Präsident des "Deutschen Industrietages" einst als SS-Angehöriger nicht nur die besetzte Tschechoslowakei wirtschaftlich auszuplündern half, sondern noch kurz vor Kriegsende dort sechzig Geiseln hat erschiessen lassen. Mit seiner Entdeckung stößt er aber weder bei seinen Redakteuren auf Widerhall noch bei zwei RAF-Angehörigen, die ihn offenbar schon länger zu "rekrutieren" versuchen. Zu Amons Unglück misslingt sein Plan, Karmann, dem ziemlich präzise dem ehemaligen SS-Mann Schleyer nachgebildeten Repräsentanten der deutschen Industrie, mit einer Sportpistole in die Beine zu schießen; der verblutet nach den Schüssen vielmehr: "Mörder wider Willen - das war das schlimmste."

Das Attentat und sein Nachhall

Trotz seines auch sonst dilettantischen Vorgehens wird Amon aber nicht gefasst, weil zu dieser Zeit der Leiter der Terrorismus-Sonderkommission Konrad Bärloch - wie sein Vorbild Horst Herold, der einstige BKA-Chef - gerade entmachtet worden ist und seine Computerfahndungsergebnisse für sich behält. So kann Franz-Maria Sonner anhand dieser Romanfiguren den Nachhall des Attentats bis ins Jahr 1998 verfolgen, in dem sich die "Rote-Armee-Fraktion" auflöste.

In seiner Fabel vom randgängerischen Attentäter, dem die restaurative Atmosphäre in der Bundesrepublik mit ungezählten wieder zu Amt und Würden gekommenen Tätern aus der Nazi-Zeit ebenso verhasst ist wie die starren Hierarchien in den militanten Gruppen, hat der achtundvierzigjährige, in München lebende Sonner eine Michael-Kohlhaas-Gestalt seiner Generation in den Mittelpunkt gestellt.

Sein Tatmotiv wird einmal mit der treffenden, sich wohl auch auf die in den 60er Jahren aufflackernden Proteste gegen die "Notstandsgesetze" zurückbeziehenden Wendung vom "moralischen Notstand" umrissen; und tatsächlich gehörte auch dieser "moralische Notstand" bei der Radikalisierung mancher Angehöriger jener Generationen damals zu den entscheidenden Motiven, die im Nachhinein aber meistens vom Bild der - aus völlig unerklärlichen Motiven - skrupellos gewalttätigen RAF verdeckt wurden.

Sonners Roman ist darauf angelegt, durch Amons Figur noch einmal dieses in den Terrorismus mündende Ur-Motiv hervorzuheben - und sowohl von den Rückwirkungen des Attentats auf einen Täter wie ihn als auch der gewissermaßen in der Logik eines jeden Terrorismus liegenden Verkehrung aller seiner überhaupt denkbaren Motive zu erzählen. Jedenfalls stößt der Erzähler des Romans - er ist einer der wenigen Freunde Amons in München, wo dieser nach dem Attentat ein neues Leben zu beginnen versuchte, bis er 1998 schließlich selbst einen gewaltsamen Tod findet - ziemlich schnell auf diese Zusammenhänge, als er Amons Existenzspuren zu entwirren sucht, weil er aus mysteriösen Gründen plötzlich selbst in Gefahr gerät.

Zwar bestimmt der Erzählgestus einer Kriminalstory - wer hat Amon umgebracht und verfolgt den Erzähler - den längeren Gegenwartsabschnitt des zweiteiligen Romans. "Damals" und "Heute" heißen die Teile, die allmählich herausschälen, dass die langwierige Verstrickung in die abgrundtiefe Feindschaft zwischen dem Staat und seinen damaligen Herausforderern sich nicht so ohne weiteres - es sei denn für frühgeübte Akrobaten ständiger Anpassung - abschütteln lässt.

Das gilt im übrigen auch für die Schlüsselfigur des Konrad Bärloch, das verkannte Genie der durch die Ereignisse der letzten Wochen und Monate jetzt wieder in die Schlagzeilen gekommenen Rasterfahndung, der in einem Erzählstrang als komplementäre Figur zu Amon auftaucht. Zwischen Bierkästen und Computern langsam aufschwemmend, lebt er in einem von ihm sarkastisch "Obersalzberg" oder auch "Volksgefängnis" genannten Bungalow auf einem Kasernengelände und erstickt - wie seine Antipoden - mit seiner Besessenheit langsam sein Leben.

Die Gegner sehen sich täuschend ähnlich

Trotz der im "Heute" in den Vordergrund tretenden Kriminalstory bleibt Sonners Blick aber immer auch auf die fatale Logik des Terrorismus gerichtet, in deren Verständnis Amon und Bärloch geradezu Brüder im Geiste sind. Paradoxerweise ist es gerade Bärloch, der durch seine besessene Einfühlung in die Denkwelt seiner Gegner stets auch einige tabuierte Realitätsreste ihres "revolutionären Kampfes" gesehen hat, aber nicht als "Deserteur" oder "verwirrter Querkopf" beschimpft werden wollte, wenn er Ansichten wie diese offen äußern würde: "vieles an den Überlegungen der RAF (war) richtig."

Allein ihre Existenz war schon ein Symptom. Die Gesellschaft war krank. Kein Kommentar wagte dies einzugestehen. Statt einer Analyse wurden Haltungen und Bekenntnisse vorgetragen. Verirrt, verrückt oder fanatisch, andere Einordnungen waren nicht statthaft. Wo war der freie Blick? Das ungetrübte Urteil?"

Das Beharren darauf, "normalerweise pflichtschuldig mitgelieferte Empörung über die Tat beiseite zu lassen", verbindet ihn mit Amon, der in einem nachgelassenen Manuskipt über das politische Attentat umgekehrt zu dem Schluß gekommen ist: "Sein Motiv ist ein idealistisches. Aber die Geschichte interessiert sich nicht für Motive und dreht den Zusammenhang um. Sie verurteilt zumeist den Täter und verklärt das Opfer. So arbeiten die Folgen der Tat gegen ihn."

Damit ist dem dilettantische Attentäter mit moralischem Motiv zumindest ein Aspekt der fatalen Logik des Terrorismus aufgegangen: er hat wider Willen für die Exkulpierung von Karmann gesorgt - und es ist ja kein Geheimnis, dass die RAF und andere in der Sprache und Politik "militärischer" Gewalt erstarrte Gruppen unter anderem auch ein sehr nützliches Feindbild geliefert haben, um von hierzulande brisanten Fragen nach Tätern und Opfern zu entlasten.

Die Fronten formieren sich neu

Sonners Versuch, nach dem Ende der RAF einen nun möglich scheinenden freieren Blick auf Motiv- und Umfelder des westdeutschen Terrorismus zu riskieren, ist sicherlich überfällig gewesen. Auch kann ihm der Mut nicht abgesprochen werden, sich den ja noch immer sehr schnell einsetzenden Abwehrreflexen auszusetzen, wenn diese deutschen Untergründe einmal ohne das übliche Betroffenheitsbrimborium ausgeleuchtet werden. Sicher ist sein Roman nicht das abschließende Epos über diese Ära, aber eine luzide Erzählung vom deutschen Trauerspiel eines moralischen Notstands, dessen Motive zwischen den beiden sich formierenden Fronten zerrieben worden sind. Allerdings hat Franz-Maria Sonner das Pech gehabt, ausgerechnet in einem Moment davon zu erzählen, da den "freien Blick" auf solche Schauplätze plötzlich schon wieder neue Polarisierungen verstellen.

Franz-Maria Sonner: Die Bibliothek des Attentäters. Roman. Verlag Antje Kunstmann, München 2001. 216 Seiten, 37 DM.

HansA
01.01.2002, 22:29
Warum musste die Besatzung der Kursk sterben? Eine Geschichte über die Arroganz staatlicher Macht

Die Kursk war nicht irgendein Unterseeboot und ihr Untergang kein unvermeidliches Unglück. Der 154 Meter lange Koloss galt bei seinem Stapellauf 1994 als das modernste Mehrzweck-U-Boot der Welt. Dem Stolz der russischen Kriegsmarine war eine tragende Rolle in einem Spektakel zugedacht, mit dem die krisengeschüttelte Flotte ihre Macht demonstrieren wollte. Das größte Manöver seit zehn Jahren sollte zeigen, dass Russland die Weltmeere wieder beherrscht. Mit dem Kentern der Kursk zerschellte auch die Hybris der Admiräle auf dem Grund der Barentssee.

Wie Größenwahn und Ignoranz eine Panne zur Katastrophe werden ließen, rekonstruieren Bettina Sengling und Johannes Voswinkel in einem Tatsachenbericht, der spannender als jeder Politkrimi ist. Trotz seiner Melodramatik: In vertrauter Illustriertenmanier küren die Moskauer Korrespondenten des "Stern" einige Besatzungsmitglieder samt Verwandten zu Hauptpersonen, deren Leben, Lieben und Leiden am Polarkreis mitfühlend geschildert wird. Dabei tragen die Autoren zuweilen etwas dick auf. Doch das mindert den dokumentarischen Wert der Reportage nicht.

Ihr zufolge war das Desaster absehbar. Zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches zählt die Darstellung des desolaten Zustands der russischen Nordmeerflotte. Es fehlt am Nötigsten: An Treibstoff, Verpflegung, Personal und Erfahrung. Vor allem aber fehlt die Ausrüstung, um mit dem radioaktiven Schrott fertig zu werden, den die Rote Armee hinterlassen hat. Rund 100 ausgemusterte Atom-U-Boote rosten in den Buchten der Barentssee vor sich hin. "Um Murmansk herum lagern mehr giftige und strahlende Abfälle als in allen Zwischen- und Endlagerstätten der westlichen Welt zusammen", stellen die Verfasser fest und sprechen von einem "Tschernobyl zur See".

Die Mangelwirtschaft ist auch für das Ende der Kursk verantwortlich. Sie muss entgegen der Vorschriften mit scharfer Munition zum Manöver auslaufen, weil es keinen Kran zum Ausladen der Torpedos gibt. Die Truppenübung gerät zum Fiasko. Kaum etwas klappt. Auch auf der Kursk nicht: Am 12. August 2000 funkt der Kapitän wahrscheinlich gegen elf Uhr, ein defekter Torpedo drohe zu explodieren. Doch die Kommandantur reagiert nicht. Eine halbe Stunde später erschüttern zwei Explosionen die See: Sie sind das letzte Lebenszeichen des U-Boots. Die später offiziell verbreiteten Erklärungen für den Zwischenfall widerlegen Sengling und Voswinkel minutiös. Für Beschuss durch die eigenen Leute gibt es keine Indizien. Hätte die Kursk indes ein feindliches U-Boot gerammt, wäre eher der Gegner gesunken. Ihr Stolz verbietet jedoch den Admirälen, eigenes Versagen einzugestehen.

Obwohl die Liste der Versäumnisse schier endlos ist. Es dauert zwölf Stunden, bis Alarm ausgelöst wird. Eine Woche lang mühen sich russische Rettungskräfte vergeblich, mit unzulänglichem Material an das Wrack heranzukommen. Hilfsangebote aus dem Westen werden drei Tage lang ausgeschlagen. Als endlich norwegische Taucher mitwirken dürfen, staunen sie über das organisatorische Chaos. "Die Inkompetenz war manchmal atemberaubend", bemerkt der norwegische Vizeadmiral Einar Skorgen. Präsident Wladimir Putin belädt sich genauso wenig mit Ruhm. Sein erster Telefonanruf gilt der Lage des Reaktors, nicht der der Mannschaft. Mit einem TV-Auftritt im Polohemd an seinem Urlaubsort verscherzt er sich viele Sympathien. Erst zehn Tage nach dem Unglück eilt er an den Unfallort und verspricht großzügige Entschädigungszahlungen: Für die Hinterbliebenen der 118 Toten ein schwacher Trost.

Schuld an dem Debakel ist letztlich die Arroganz der Mächtigen, lautet das Fazit. Auch die Analyse des gehobenen Wracks wird diesen Befund nicht ändern. "Für die Herrschenden ist das Volk nur Arbeitsvieh", urteilt Korvettenkapitän Wladimir Jelmanow, der einen anderen Schiffsuntergang überlebte. "Wir fahren Atom-U-Boote und sind moralisch noch in der Steinzeit." Solange das so bleibt, ist die nächste hausgemachte Katastrophe in Russland nur eine Frage der Zeit.

Bettina Sengling, Johannes Voswinkel: Die Kursk. Tauchfahrt in den Tod. DVA, Stuttgart/München 2001. 287 Seiten. 36 DM